Die Positionierung
der Woche

Kommentare und Beobachtungen
aus dem Marketing

KW 41 · 12. Oktober 2021 · Auffälligkeiten, Marke, Politik

BTW - die Markenwahl

Foto BTW - die Markenwahl

Die Bundestagswahl hat ein nicht gänzlich erwartetes Ergebnis gebracht. Gut so, denn was erwartbare, gesicherte oder gar gesteuerte Ergebnisse bedeuten, sehen wir in anderen staatlichen Gesellschaftsformen. Wir können frei wählen und die Geschicke in die Hände legen, denen wir am meisten vertrauen.

In einer pluralen Gesellschaft sind auch die Angebote vielfältiger geworden. Eine logische Entwicklung, die es den früheren, sogenannten Volksparteien schwerer macht, die Interessen heterogener Themencluster und soziodemografischer Gruppen zu vereinen.

 

Alle Parteien – und in diesem aktuellen Wahlgang waren mehr Angebote als je zuvor wählbar – müssen um die Gunst der Wähler*innen werben.
Mit Werten, mit Inhalten, mit Personen und der imagegebenden Wirkung all dieser Faktoren – das Fundament einer jeden Marke. Unter diesem Blickwinkel möchte ich hier eine Markendeutung abgeben, mehr als Spotlight, ohne eine tendierte politische Bewertung oder eine Prognose, was gut oder schlechter werden wird.

 

Wahlforscher segmentieren vorab für gewöhnlich unterschiedliche Wählergruppen, sprich Ziel- oder Kundengruppen:

Stammwähler*innen
Wechselwähler*innen
unentschlossene Spontanwähler*innen
Jungwähler*innen (Neuwähler*innen)
und im Saldo die Nichtwähler*innen

In welchem Maße ist es also den Parteien gelungen, aus diesen unterschiedlichen Gruppen das eigene Potential zu erreichen, eine Frage, der sich jede/r Produkt- oder Markenverantwortliche in Unternehmen gleichermaßen regelmäßig stellt.

 

Warum also konnte die bisherige Marktführerin die eigene Position nicht verteidigen? Nun, die Zeichen standen auf Veränderungen. Die Union war 16 Jahre in der Hauptverantwortung und konnte zu wenig innerparteiliche Erneuerung beweisen. Die Botschaft, das Wahlversprechen oder, kleiner gedacht, der Produktnutzen, war im Kern „weiter so, nur diesmal ernsthaft und konsequent“.
Die ökologische Transformation war allgemein eines der treibenden Themen, für die Union jedoch kein Feld eigener Profilierung. Die Glaubwürdigkeit war hier nicht sehr groß, vermeintlich bewährte Konzepte zogen nicht. Die sehr traditionelle Verankerung in unserer Gesellschaft, die breite Zustimmung mit befriedender Wirkung einer Volkspartei wurde nicht sichtbar, es fehlte die Komponente der Moderne. Alte Konzepte waren weniger gefragt.
Kein Wunder, dass auch der Kanzlerkandidat hier eher rückgewandte Zeichen setzte. Allein die mühsam vorangestellte Kür mit den drei verdienstvollen Herren aus einem Landesverband stand wenig für Öffnung und bundesweitem Aufbruch.
Zudem sorgten die permanenten Stellungnahmen aus dem bayerischen Schwestermarkenland für Verunsicherung. Eine Union - mit geteilten Werten, Überzeugungen und Konzepten - war es nicht. Nicht gerade attraktiv, weder für Stamm-, Wechsel- oder Jungwähler.

 

Völlig überraschend wurde somit die SPD zum aktuellen Marktführer, obwohl zuletzt gleichfalls lange in der Verantwortung. Hier wirkten andere Kräfte. Zum einen scheint Olaf Scholz der bessere Merkel als Armin Laschet (spätestens nach dessen medialem Fauxpas). Denn ein bisschen Sicherheit brauchen wir ja auch und Scholz hatte schon Krisenfestigkeit bewiesen. Selbst eigene Glaubwürdigkeitskrisen scheinen an ihm abzuprallen, weil er so eine Grundfestigkeit ausstrahlt.
Und der SPD ist es dabei gelungen, ganz alte, sehr bewährte und zunehmend wichtige Komponenten des traditionellen Markenkerns auf die Person Scholz und ein modernes und zukunftsorientiertes Führungsteam zu projizieren. Gerade in Zeiten von Disruption und Transformation brauchen viele Menschen soziale Sicherheit und das Gefühl gerechter Chancen.
Dass die SPD-Kampagne, speziell mit dem 12 Euro Mindestlohn, so früh, klar und konsequent umgesetzt wurde, lieferte zeitlichen Vorsprung und baute eine Kernposition auf, an der sich alle weiteren Themen und Herausforderungen entwickeln konnten. Ein gutes Viertel aller Wähler hat dies überzeugt.

 

Und warum hat Die Linke nur so ein kleines Stückchen dieser sozialen Erneuerung erhalten? Obwohl sie die soziale Gerechtigkeit genuin besetzt und sogar im Bereich Klimawende die konsequenteste Programmatik aufgestellt hat?
Das Zutrauen ist geringer. Selbst bei den vermeintlichen Stammwählern gab es dramatische Verluste. Waren es also gar keine Stammwähler? Oder wurden die Motive dieser Gruppe einfach nicht verstanden und bedient?
Und in der Tat scheint mir das Profil sehr diffus. Auch weil charismatische Personen fehlen, die die eigenen Inhalte glaubhaft und überzeugend vertreten. Der Wettbewerber SPD war hier prägnanter. Auch die zweite Wurzel, das Transferieren einer ostdeutschen Herkunft und Wertewelt in die gesamtdeutsche Gestaltungspolitik wird nach 30 Jahren nicht im gleichen Maße gebraucht. Und das, was Wähler*innen an Protest am System ausdrückten, hat heute neue Motive und ein anderes Sammelbecken.

 

Die Grünen lagen in den Vorhersagen lange chancenreich vorne, weil viele im Theoretischen die Notwendigkeit der Klimawende und eines sozial-wirtschaftlichen Umbaus erkannten. Doch mit fortschreitendem Wahlkampf musste es konkreter werden und die Konzepte stießen an die Beharrungsvermögen der Wählerschaft. Das Image einer Verbotspartei musste umgewandelt werden in einen breit angelegten, pragmatischen und gesamtgesellschaftlichen Entwurf.
Die entstandenen Kompromissformeln mögen manchen einengender erscheinen als die parteihistorische Mission. Nicht alle hat das überzeugt und mitgenommen. Die Verheißung, quasi eine neue Volkspartei werden zu können, machte Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin und schliff an der eigenen Konsequenz.
Die Grünen besitzen in ihrer Mitgliederschaft immer noch Spuren der ursprünglichen Protestpartei und vereinen diverse Strömungen. Kultur- und wertebedingt ist die Führung dual aufgestellt. Gut gemeint, aber für die Außenwelt manchmal mit Fragen behaftet. Das macht Eindeutigkeit schwer, zu einem Problem wurde es, als die Kandidatin mit persönlicher Schludrigkeit Vertrauen und Zustimmung verlor.

 

Die FDP wurde diesmal für eine bedeutende Schnittmenge aus allen Parteiprogrammen belohnt. Liberal ist immer gut. Die Freiheit des Einzelnen in Verantwortung für die Gesellschaft. Beharrlichkeit wurde belohnt. Christian Lindner und der Gesamtpartei ist es gelungen, ein positives Markenimage zu verfestigen. Mit der Botschaft: nichts geht ohne eine gut florierende Wirtschaft. Mittelstand, Einzelunternehmer*innen, Jungwähler fühlten sich verstanden. Energiewende ja, aber bitte mit interessenschonender Systematik, die FDP-Themen Entbürokratisierung, Digitalisierung und Bildung wurden zu fundamentalen Botschaften. In der Inszenierung ist der FDP wohl der frischeste Wurf gelungen, bei Jungwählern fand es großen Anklang. Die Zukunft gestalten, hier hat es motiviert.

 

Fazit für alle Verantwortlichen (in Politik und Wirtschaft):

Was allgemein für Marken gilt, gilt auch in der Politik. Werte und Ideale sollten zu den Bedürfnissen des Marktes passen.
Veränderungen passieren, gehen sie mit oder gehen sie voraus.
Stillstand merken sie bei der nächsten Wahl. Fortschritt auch.

 

Helmut Nissen
Ihr Strategie Moderator

Werte. Versprechen. Vertrauen.

Tags: Auffälligkeiten, Marke, Politik

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